Marcus Frings

Der Modelle Tugend.
CAD-Modelle in der Kunstgeschichte

Auch die Kunstgeschichte gewöhnt sich langsam an den Computer. Meist wird er als Schreibmaschine genutzt, hin und wieder als Datenbank oder Bildspeicher, oft als Instrument zur Internetrecherche und zur Kommunikation - die Möglichkeiten des Computers schöpft unsere Disziplin aber bei weitem nicht aus. Das hat natürlich seine guten Gründe, will man doch z. B. nicht viel Geld für eine Digitalisierung der Diathek ausgeben, um in wenigen Jahren festzustellen, daß die Hardware nur noch die Hälfte kostet, aber das Zehnfache leistet, oder die gewählte Datenbank sich nicht durchgesetzt hat und kein Austausch mit anderen Instituten möglich ist.

Dennoch können wir von anderen Disziplinen einiges lernen, so von der Architektur. Hier ist der Einsatz von Computer Aided Design (CAD) mittlerweile selbstverständlich: Man zeichnet nicht nur Pläne damit, sondern baut daraus ganze Modelle, die dann auch noch eine passende Umgebung, das gewünschte Licht und vielleicht eine Animation bekommen. Wie dies auf historische Architektur übertragen aussieht, führen z. B. die verschiedenen Projekte von Manfred Koob vor, dem Pionier auf diesem Gebiet. Seit Cluny 1988 kann man den Fortschritt der neuesten Technologien bis zu den aktuellen Synagogen verfolgen.

Mittlerweile liegt ja eine ganze Reihe solcher Projekte vor, die von verschiedensten Ansätzen ausgehen. Meist ist die perfekte Illusion das Ziel, und die dabei erzielten verblüffenden Ergebnisse ziehen nicht nur Lob einer breiten Öffentlichkeit, sondern auch geharnischte Kritik auf sich. Das "Bauen" solcher Modelle stellt der Beitrag von Marc Grellert vor, bei Stephan Hoppe steht die didaktisch Seite im Vordergrund, bei Hubertus Günther ergänzt um den Wert von CAD in der bauhistorischen Forschung, auf die sich wiederum Hermann Schlimme konzentriert. Auch die denkmalpflegerische Dimension einer visualisierten Datenbank fehlte bei der Tagung nicht.[1]

Diese Bandbreite wurde vorgeführt, um den Umgang mit dem Instrument CAD in der Kunstgeschichte als Disziplin zu untersuchen: Einsatzmöglichkeiten, Nutzen, Risiken. Nunmehr scheint ein Punkt erreicht, an dem die Kunstgeschichte nicht mehr nur von den CAD-Anwendern lernt, sondern selber ein solcher Anwender wird und ihre eigenen Wünsche mit dem neuen Medium zu verwirklichen sucht.[2] Um diesem Thema näher zu kommen, soll das neue Medium zunächst in die Tradition der alten gestellt werden, um auf die Bezugssysteme zu schauen, in denen die Produkte der neuen Techniken wahrgenommen werden.

Das sind in erster Linie die historischen Architekturmodelle, eine Gattung, die in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit erfährt.[3] Eine Funktion im Planungsprozeß übernehmen Modelle wohl erst im 14. Jh. Die früheren Nachrichten sprechen eher von allgemeinen Vorbildern, von Schablonen oder von einer Zeichnung, wie die vielzitierte Quelle zu St.-Germain in Auxerre (9. Jh., überliefert 1146).[4] Ein begehbares "Kirchlein aus Ziegeln" (chiesicciuola di mattoni) von 1367 stand bis 1431 neben dem Florentiner Dom, um den Neubau aller Welt vor Augen zu führen. Ähnlich große Modelle sind etwa gleichzeitig in Mailand und für 1390 in Bologna belegt. Diese Modelle waren wohl weniger Entwurfsinstrumente als Demonstrationsmedien, an denen sich die Öffentlichkeit ein Bild des Geplanten machen kann, die aber auch den Bauleuten zum konkreten Vorbild dienen. Daher achtete man nicht nur auf den richtigen Maßstab, sondern ahmte auch die Oberflächenwirkung des Kirchengebäudes nach.

Diese Praxis war so gängig, daß sich Leon Battista Alberti genötigt sah, in seinem Architekturtraktat davor zu warnen, "auf Glanz hergerichtete und sozusagen durch das Lockmittel der Malerei aufgeputzte Modelle vorzuweisen".[5] Dem Architekten boten solche Modelle Gelegenheit, Raumwirkungen vorab zu kontrollieren und das Ineinander von Innen und Außen komplett zu überblicken. Experimentierende, gestaltfindende Entwurfsmodelle wurden dagegen aus Wachs oder Ton geformt, und zwar offenbar zuerst von jenen Architekten, die ein plastisches Handwerk gelernt hatten wie Brunelleschi die Goldschmiedekunst. Von ihm wird berichtet, er habe seinen Bauleuten Muster für die schwierig zu bemessenden Quader der Domkuppel in Florenz aus Rüben zurechtgeschnitten.[6]

Perfektioniert wurde der Modellbau im 17. Jh. John Soane ging dann so weit, sein Londoner Haus nicht nur mit über hundert Modellen seiner teils skurrilen Entwürfe zu füllen. Seine Bank of England ließ er dazu dreifach malen, einmal als brodelndes zeitgenössisches Geschäftszentrum, dann als ziegelsichtige antike Thermenanlage, und ein drittes Mal als Ruine, aber immer noch als Bild des Modells.[7]

Die Nachbildung gebauter Architektur erreichte einen Höhepunkt in den Korkmodellen fürstlicher Kunstkammern des Klassizismus. Schon Balthasar Neumann trug eine regelrechte Sammlung von Modellen ihn beeindruckender Bauten zusammen. Gezielt konzipierte Lehrsammlungen gibt es noch heute an manchen Architekturfakultäten. Zu Dokumentationszwecken wurden sogenannte Erinnerungsmodelle angefertigt von Gebäude, die zum Abriß bestimmt waren. Gerade solche sehr anschaulichen Modelle, vielleicht sogar begehbar, haben ja auch etwas Spielerisches, und man genießt kennerschaftlich, wie nah die Nachbildung dem Original kommt.

"Quattro libri" RotondaEntwurfsfindung und -kontrolle, Präsentation, Anleitung der Bauleute - das sind Zwecke, die auch die Zeichnung erfüllen kann. Als stärker abstrahierendes Medium bietet sie Spielräume, die das anschaulichere Modell nicht gewährt - es zwingt im Gegenteil zur Vollständigkeit. Das ist eine Erfahrung, die jeder macht, der nach Plänen ein Modell zu bauen hat - in zweimensionaler Darstellung sind Dinge möglich, die im dreidimensionalen Miniaturgebäude nicht möglich sind. So übergeht z. B. der Holzschnitt der Villa Rotonda in Palladios Quattro Libri von 1570 ein Problem, das sich bei der Kombination von Zylinder und Würfel ergibt (Abb. 1): Palladio - bzw. sein Stecher - zeichnet eine gerade Linie, wo eigentlich eine Krümmung sein müßte, eine von First zu First gehende Girlande wie im ausgeführten Bau, der ja nach Palladios Tod von Scamozzi vollendet wurde (Abb. 2).[8]

Rotonda  Detail "Tambour"

Auch die Nachbildung eines bestehenden Gebäudes leistet die Zeichnung, in Form von Beständsplänen. In älteren Publikationen sind sie gerne mit künstlerischem Ehrgeiz gestaltet, besonders in der französischen Schule. Die heutigen, nüchtern informierenden Strichzeichnungen - Ergebnis einer ausgefeilten Technik von Messen und Zeichnen, Projektion und Axonometrie, Maßstäblichkeit und Kartographie - sind für den ungeübten Betrachter eher abstrakt, für den Fachmann jedoch höchst anschaulich.[9]

Modell und Zeichnung - das sind die beiden Bezugssysteme, in deren Kontext man auf CAD-Modelle blickt. Für sie hat sich der Begriff "virtuelles Modell" eingebürgert. Ich halte ihn für etwas unglücklich, insinuiert er doch, es handele sich nicht wirklich um ein Modell, sondern lediglich um eines, das der Anlage nach vorhanden ist, also nur existent sein könnte. In diesem Sinne wird die Vokabel oft schon synonym zu fiktiv gebraucht. Das CAD-Modell aber ist vorhanden, allerdings immateriell als Information, die Bilder erzeugt.

Nimmt man den Terminus "virtuelles Modell" jedoch ernst und sieht ihn zusammen mit der nachantiken Hauptbedeutung von virtus als Tugend, dann kommt man zu einer Ethik der CAD-Modelle - eben der Modelle Tugend. Dies sei unser Leitfaden für die nachfolgenden Überlegungen.

In der von Platon formulierten Vierergruppe der Kardinaltugenden ist Weisheit/Wissen sicher die wichtigste, weil sie erst die Unterscheidung des Guten und Schlechten ermöglicht. Sie ist eine Verstandestugend, die Artistoteles weiter differenziert in phrónesis und sophía. Die aristotelische phrónesis können wir als handlungsleitende Weisheit verstehen, als sapientia. Unser tugendhaftes Modell legt damit seine Ziele fest - hier ist ein breiter Raum für Anwendungen, die nicht nur dokumentieren oder die Arbeit beschleunigen, sondern auch einen Erkenntnisgewinn bieten, wie die Beiträge von Hubertus Günther, Kathrin Stärk und Hermann Schlimme andeuten.

Sophía definiert Aristoteles als Möglichkeit, theoretisches Wissen zu erlangen. Die Scholastiker kennen als Lebensäußerungen der prudentia unter anderem Gedächtnis, Erkenntnis, Gelehrsamkeit. Das sind Eigenschaften, die man als der Modelle Klugheit verstehen kann. Unser tugendhaftes Modell soll ein historisches Gebäude vergegenwärtigen, auf der Grundlage ganz unterschiedlicher Informationen - historische Entwürfe oder Ansichten, Bauaufnahmen, Fotografien, Meßbilder, dann Beschreibungen, Berichte von Zeitzeugen usw. Allein schon die Recherche dieses Materials führt wohl schon zu einem Erkenntnisgewinn, läßt sich zumindest didaktisch gut in Seminare einbauen. Dabei ist selbstredend die gleiche wissenschaftliche Korrektheit, die konventionellen Rekonstruktionen zugrunde liegen sollte, auch für CAD-Modelle möglich. Die Frage ist dann, ob sie auch gewünscht ist - das ist eine Entscheidung, die vorher zu fällen ist, wenn die Projektziele definiert werden.[10]

Tapferkeit ist eine Tugend, die momentan kaum Konjunktur hat. Das kann man ein tapferes Modell nennen, das die Möglichkeiten des Mediums CAD nutzt, das den Mut hat, Neues zu wagen. Ohnehin stellt sich doch immer die Frage, worin die besonderen Möglichkeiten dieser Technik liegen gegenüber den konventionellen Modellen - Anschaulichkeit, Bewegung, Interaktivität, Varianten des Modells, ferner ein Benutzen "fremder" Programme (z. B. Statikprüfung, Lichtsimulation) für kunsthistorisch relevante Informationen.

Der klassischen Tugendlehre gilt fortitudo als Annehmen von Gefahren und Ertragen von Mühen in geduldiger Standhaftigkeit. Welche Gefahren können einem Modell drohen, die es annimmt und abwehrt? Reicht die Kraft der prudentia nicht aus, kann es zu fehlerhaften Rekonstruktionen kommen, dagegen ist man nie gefeit. Wichtiger erscheint aber die vielbeschworene Suggestivkraft der Bilder. Die illusionistische Erscheinung läßt auch hypothetische Rekonstruktionen als gesichert und endgültig erscheinen, fixiert Unsicheres. Dabei ist jede Rekonstruktion auch eine Konstruktion. Und der lange Prozeß, der erst zu diesem Vorschlag geführt hat, ist unsichtbar, ein Bild steht am Ende. Das CAD-Modell kann hier Strategien entwickeln, um dieser Gefahr zu begegnen.

Das richtige Maß zu finden hilft die temperantia. Sie hält die sinnlichen Lüste im Zaum, um einerseits Zügellosigkeit, andererseits Empfindungslosigkeit zu verhindern. Ziel ist die Mitte, das richtige Maß der Affekte. Das setzt voraus, diese Affekte zu kennen. Hier ist der Platz der Selbstreflexion des tugendhaften Modells. CAD kann und will ein komplettes, wirklichkeitsnahes Modell bauen, das immer näher an die gebaute Realität rückt. Bisher sind jedoch alle CAD-Modelle mehr oder weniger als solche erkennbar - man nimmt sie als Kunstprodukt wahr. Das macht in einem Augenblick alle Differenzen zur gebauten Architektur klar: Man erlebt Bilder, keine Architektur. Vielleicht ist - mit den Mitteln von Soft- und Hardware - irgendwann ein Punkt erreicht, an dem CAD-Modelle wie Gebäude rezipiert werden.[11]

Das tugendhafte Modell schenkt den berauschenden Wein in Maßen aus, abgewogen durch karges Wasser an den richtigen Stellen. Die Stärke des sehr abstrahierenden einfarbigen Holz-Modells oder gar einer Strichzeichnung ist ihre eigentümliche Mischung aus Präzision und Unschärfe - vieles bleibt offen, weil es offen bleiben muß, oder weil man keine Festlegung verantworten möchte. Die Stärke des CAD-Modells ist dagegen die Konkretion - warum aber kann nicht auch hier diese Unschärfe genutzt werden? Vielleicht sogar ganz direkt, wenn z. B. die Säulenordnung nicht bekannt ist. Vielleicht ja auch in einem Nebeneinander, sozusagen einem Rumpfmodell, beschränkt auf die gesicherten Daten, und einer um Ergänzungen erweiterten Version.

Die Gerechtigkeit im weiteren Sinne ist nach christlichem Verständnis so viel wie eine Zusammenfassung aller Tugenden. In der weiterentwicklung der aristotelischen Gerechtigkeitslehre durch Thomas von Aquin läßt und gibt iustitia im engeren Sinne jedem das Seine, und dieses Geschuldete existiert in dreifachem Verhältnis: Des einzelnen der Gemeinschaft gegenüber, umgekehrt der Gemeinschaft dem einzelnen, und schließlich der Individuen untereinander. Da es - bislang zumindest - keine res publica der CAD-Modelle gibt, kann man nur diese letztere Form betrachten, die justitia commutativa. Dieses Verhältnis der Modelle untereinander betrifft vor allem das Lernen voneinander, den Austausch untereinander, nämlich der Daten - immer wieder werden z. B. Geometrien von neuem aufgebaut, weil man die des vorigen Modells nicht übernehmen kann. Das sind Softwareprobleme, die so alt sind wie die Computerwelt. Damit verbunden ist die Frage der Archivierung. Allein schon wegen der Weiterentwicklung bestimmter Programme können ältere Daten ja oft nicht mehr benutzt werden. Hier hat eine historische Disziplin wie die Kunstgeschichte natürlich besondere Wünsche.

Spätestens mit Blick auf die die stark christlich geprägte Trias der göttlichen oder übernatürlichen Tugenden muß das Modell des tugendhaften Modells natürlich Risse bekommen, zumindest wird die Rollenverteilung zwischen Bauherr, Architekt und Handwerkern etwas kompliziert. Denn diese Tugenden sind ja schließlich auf einen göttlichen Willen bezogen. Fides bedeutet, das Geoffenbarte für wahr halten. Dem Modell werden die Informationsgrundlagen geoffenbart, damit sind wir, die CAD-Modelle bauen, in der Rolle des Offenbarers - diese Hybris sei erlaubt.

Der, dem etwas geoffenbart wurde, neigt dazu, dies aufzuschreiben, weil sonst der Glauben der Beliebigkeit verfällt. Und er neigt dazu, dieses Kodifizierte anderen zu vermitteln. Beides tut auch unser tugendhaftes Modell, oder sollte es zumindest tun. Das berührt wieder die Wissensgrundlagen, die mit den Verstandeseigenschaften der prudentia erarbeitet werden. Eine besondere Möglichkeit des CAD-Modells ist es, alle diese Informationen zu archivieren und abrufbar zu machen, und sei es nur als Text. Die Möglichkeiten des Mediums auszunutzen hieße selbstverständlich, diese Informationen auch im Modell selbst darzustellen, bildlich zu präsentieren. Das wäre eine ganz neue Qualität von Bildern, sozusagen wissenschaftliche aufgeladene Bilder, was sich besonders bei Rekonstruktionen empfiehlt, um die Informationsgrundlagen mit dem Ergebnis zu verbinden.

Die christliche Tugend der Liebe ist bekanntlich nicht Amor, sondern caritas. Augustinus unterscheidet die caritas Dei und die caritas proximi, also die Gottes- und die Nächstenliebe. Daß unser Modell seinen Schöpfer liebt, sollte außer Zweifel stehen. Und als den Nächsten können wir ebenfalls uns selbst, die Schöpfer oder zumindest Benutzer und Betrachter, ansehen, hat doch die Nächstenliebe ihren Beweggrund in der caritas Dei. Damit sind wir beim Verhältnis des Modells zu uns, bei der Präsentation.

Auch bei den hier vorgestellten Projekten wird die Vielfalt der Möglichkeiten deutlich, wie CAD-Daten aufbereitet werden können: Neben Filmsequenzen, die ja auch von einer CD-ROM oder übers Internet gestartet werden können, gibt es Techniken einer begrenzten Interaktivität: die sog. Quicktime-VRs (VR für Virtual Reality), die vordefinierte Blickschwenks und Zooms erlauben. Dafür braucht man noch nicht einmal CAD, das geht auch mit Fotos. Ferner sog. VRMLs, modellierte Körper, die ein relativ freies Navigieren in einem CAD-Modell ermöglichen, wobei in der Internetübertragung die Bilder jeweils vom empfangenden Computer aus den vorgegeben Daten errechnet werden. Das unterscheidende Kriterium ist der Grad der Freiheit, die Beweglichkeit und Wahlmöglichkeit des Betrachters. Vielleicht läßt sich die Selbständigkeit des Benutzers einmal so weit treiben, daß man sich aus einem Modell einen beliebigen Grundriß zeigen lassen oder einen bestimmten Schnitt legen kann. Auch Maße z. B. sollen aus diesem Modell abrufbar sein können, im Sinne eines Gebäude-Informations-Systems, zu dem es ja einige Vorarbeiten gibt.

Ganz wichtig für das Erleben der Modelle sind auch die Fragen nach dem Betrachterstandpunkt, Blickwinkeln und Perspektiven wegen des Subjekt-Bezuges, ferner objektive Faktoren wie Lichtsituation und Detaillierungsgrad. Abweichende Lösungen werden gerade dort deutlich, wo das Objekt ganz ähnlich ist - die in Darmstadt "gebauten" Synagogen verfolgen strikt einen architektonisch zu nennenden Stil, mit weiten Überblicken, einem realistischen Betrachterstandpunkt, aber einer neutral-abstrahierenden Lichtregie, die möglichst viel vom Gebäude zeigt. Das Projekt memo 38 der FH Wiesbaden dagegen sucht nicht das analytische Gesamtbild, sondern das ästhetische Detail, indem eine Kamerafahrt nach der anderen immer neue erstaunliche Details der rekonstruierten Synagoge Wiesbaden zeigt, die in stimmungsvolles Licht getaucht ist mit flackernden Kerzen, untermalt von Kultgesängen. Neben der Illusion liegt ein anderer Schwerpunkt auf der sauberen Recherche und deren umfassender Dokumentation.

Mit der letzten göttlichen Tugend, der Hoffnung, verlassen wir die Trias dieser theologischen Tugenden, da wir die erhofften Güter - Sündenverzeihung, ewiges Leben - ohnehin nicht gewähren können. Weiter führt der atheistische Humanismus eines Ernst Bloch. Betrachtet man unser CAD-Modell im Lichte seiner "Ontologie des Noch-Nicht-Seins", so scheint es geradezu das Paradigma des Prinzips Hoffnung zu sein: Den "Selbsterweiterungstrieb nach Vorwärts" sieht Ernst Bloch eingebettet in das Bewußtsein des Individuums, noch nicht das zu sein, was es der Möglichkeit nach sein kann.[12] Es ist immer nur vorläufig und eine Zwischenstufe einer ständigen Entwicklung. Selbst das Ziel dieses Vorwärts, die Utopie einer Aufhebung der Entfremdung zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Natur, kann eine Entsprechung in der virtuellen Realität finden. Damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt, der Frage nach dem virtuellen Modell und seiner Wirklichkeit.

Auf die kritische Frage, ob das Medium CAD überhaupt geeignet ist, wissenschaftlich taugliche Modelle herzustellen, ist zu antworten: Gerade dieses Medium ist dazu geeignet wie kein anderes. Projektziele, Informationsgrundlagen und Gelehrsamkeit, Kraft der Bilder, Strategien der Codierung, Austauschbarkeit und Archivierung von Daten, Dokumentation des Denkprozesses und Abrufbarkeit aller relevanten Daten, Präsentation - in allen Punkten kann das tugendhafte Modell die besonderen Möglichkeiten von CAD und Informationstechnologie allgemein noch viel stärker ausnutzen als bisher. Erst recht, wenn Programme technischer Disziplinen z. B. zur Statik, Lichtführung oder Akustik benutzt und integriert werden. Daß dies möglich ist, zeigt bereits das Projektseminar des Fachgebiets Kunstgeschichte der TU Darmstadt zur Villa Rotonda im Wintersemester 2000/2001, bei dem den Architekten geläufige Programme zur Visualisierung des Gebäudes und auch zum Erkenntnisgewinn eingesetzt werden (http://villa-rotonda-projekt.de). Wir stehen da tatsächlich am Anfang einer Entwicklung, die es zu gestalten und zu reflektieren gilt.

Bilder übernehmen in unserer Kultur immer stärker eine informierende Funktion, auch in der Kunstgeschichte. Selbst die große Ausstellung zur deutschen Architektur des 20. Jhs. arbeitete jüngst nicht mit Plänen, sondern durchweg mit Fotos der Gebäude,[13] ebenso vieldiskutiert war die Präsentation von reinen Schwarzplänen für den Berliner Stadtgrundriß auf der Architektur-Biennale 2000. Diese Entwicklung weg von der Schriftlichkeit mag man beklagen, mag sie aber auch als Chance sehen, schließlich arbeitet die Kunstgeschichte mit Bildern. Und CAD-Modelle bieten nun die Möglichkeit, die digitalen Bilder mit weiteren, ebenso bildlich präsentierten Informationen zu verknüpfen, wie im erwähnten Rotonda-Seminar versucht wird. So erhält man das genaue Gegenteil der (selbstverständlich einbezogenen) abstrahiert-reduzierten Pläne konventioneller Prägung - wissenschaftlich aufgeladene Bilder historischer Architektur.

1 Dipl.-Ing. Thomas Liedl (Wien) stellte in seinem Vortrag das Projekt "virtual stone" von, das über ein dreidimensionales Aufmaß jedes Steines des Stefansdomes die Ziele Visualisierung und Dokumentation in der Denkmalpflege verfolgte. Dabei war auch an eine gezielte maschinelle Neuanfertigung von Steinkopien gedacht. Da in Zeiten des EU-Boykotts gegen Österreich dieses Projekt nicht gefördert wurde, sah Herr Liedl leider von einem Beitrag für diesen Band ab.

2 Dabei ist klar, daß die Technik nach wie vor von anderen Disziplinen vorangetrieben wird, nicht zuletzt auch von der Spiele- und Filmindustrie.

3 Vgl. die Ausstellungen über Architekturmodelle der Renaissance von 1994/95 und des Barock von 1999.

4 "Horum [i.e. artifices] industria ad loci opportunitatem accedente, concepti operis exemplar conficitur, et quasi quodam praeludio futurae moles magnitudinis caeris brevibus informatur ea pulchritudine, ea subtilitate", zit. Julius von Schlosser (Hg.): Schriftquellen zur Geschichte der karolingischen Kunst, Wien 1892, Nr. 602, S. 193.

5 De re aedificatoria 2, 1, Übers. Max Theuer, Darmstadt (1912) 1975, 69; Ed. Giovanni Orlandi, Paolo Portoghesi, Bd. 1, Mailand 1966, S. 95: "modulos fucatos et, ut ita loquar, picturae lenociniis falleratos producere".

6 Antonio di Tuccio Manetti: Vita di Filippo Brunellesco, Ed. Howard Saalman, Übers. Catherine Enggass, University Park, London 1970, Z. 1008-1013.

7 Eva Schumann-Bacia: Die Bank von England und ihr Architekt John Soane, Zürich, München 1989, Nr. 33, S. 46 f.

8 Vgl. auch die Unstimmigkeiten, die Gerd Schneider: Unbekannte Werke barocker Baukunst. Ansichten nach Entwürfen von Balthasar Neumann und Zeitgenossen, Wiesbaden 1995, S. 113 in den Johann Michael Fischer zugeschriebenen Entwürfen für die Abteikirche Wiblingen nachweist

9 Valentin Kockel: Ansicht, Plan, Modell. Zur Darstellung antiker Architektur am Beispiel von Pompeji u. Herculaneum. Ausst. Universitätsbibliothek Augsburg, Augsburg 1996.

10 Urteil, Erfindungsgabe, Voraussicht, Umsicht und auch Vorsicht sind in der scholastischen Lehre andere Erscheinungsformen der prudentia.

11 Dann stellt sich die Frage, ob man das überhaupt will. Schließlich wird ja auch unsere Wahrnehmung der Originale verändert, die doch Hauptgegenstand unserer Beschäftigung sein sollten.

12 Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1/3, Berlin 1954, S. 88-90.

13 Deutschland. Architektur im 20. Jahrhundert, Ausst. Deutsches Architektur-Museum, hg. von Romana Schneider, Winfried Nerdinger, Wilfried Wang, München 2000.